Ich lebe seit nunmehr fast sieben Jahren in Tampere, Finnland und habe meine Entscheidung auszuwandern nie bereut. Sicher, es gibt Momente in denen es komisch, traurig, unangenehm oder problematisch ist, so weit von der eigenen Familie und vom Heimatland entfernt zu sein, aber in den Jahren, die ich hier verbracht habe, habe ich auch sehr viele schöne, lehrreiche und interessante Erfahrungen gemacht und viel gelernt - besonders über mich selbst.
Auswandern ist eine Extremerfahrung, selbst wenn man genau weiß, wo man hinzieht und was einen dort erwartet. Denn, was einen dort erwartet, das weiß man nie so ganz genau, egal wie sicher man sich dessen ist. Ich kannte die Stadt in der ich heute lebe schon länger, als ich mich entschloss, endgültig zu emigrieren. Vor meinem Umzug ins Ausland hatte ich schon insgesamt vier Monate in Tampere gelebt (einen Sommer verbrachte ich drei, den darauf folgenden einen Monat dort), doch es stellte sich schnell heraus, dass es eine Sache ist, in einer Stadt Urlaub zu verbringen und seine Sprachkenntnisse aufzupolieren, aber eine andere, wenn man dort tatsächlich einen Alltag hat. Hinzu kam, dass weder ich noch die beiden Freundinnen, mit denen ich seinerzeit her zog, hier einen Job hatten.
Tampere im Winter. Einer der Gründe weswegen ich diese Stadt liebe.
Um uns den Papierkampf bei der Einwanderung zu erleichtern, kamen wir als Austauschstudenten ins Land. Wir hatten mit unserer Universität einen Erasmus-Aufenthalt von einem Jahr vereinbart, was uns auch in Bezug auf die Wohnungssuche weiterhalf. In Finnland gibt es in jeder größeren Stadt mit einer Universität Studentenwohnheime, auch solche mit komplett eingerichteten Zimmern für Austauschstudenten. Da wir uns mit dem System schon auskannten, weil wir einen Sommer bei der Studentenwohnungsgesellschaft in Tampere schon Unterschlupf gefunden hatten (im Sommer stehen die Wohnungen oft leer - falls ihr längere Zeit in einer finnischen Stadt verbringen und wenig für Unterkunft zahlen möchtet, ist das ein gute Anlaufpunkt), war es kein Problem eine Wohnung zu finden, sobald wir die Zusage von der Universität hatten. Auch die polizeiliche Registrierung war durch das Auslandsjahr an der Universität leichter zu begründen, als wenn wir der Polizei hätten erklären wollen, dass wir nach Tampere ziehen wollen, ohne Job, ohne Angehörige etc. Außerdem bot uns dieses eine Jahr auch die Möglichkeit in Ruhe zu sehen und auszuloten, ob Tampere wirklich das ist, was wir wollen.
Tip 1: Dementsprechend kann ich Studenten, die mit dem Gedanken spielen nach dem Studium auszuwandern, nur empfehlen ein Auslandsjahr in dem entsprechenden Land, wenn möglich in der entsprechenden Stadt zu organisieren. Wenn euch doch etwas stört, ist es einfacher einen Rückzieher zu machen, ansonsten ist selbst innerhalb Europas der Kampf mit der Bürokratie sehr viel einfacher als wenn ihr auf eigene Faust loszieht. Ich selbst habe keine Erfahrung mit dem Auswandern über den Arbeitgeber, aber nach allem was ich von anderen Auswanderern gehört habe, ist das noch mal einen Tick einfacher, weil der Arbeitgeber vieles für den Arbeitnehmer organisiert. Hinzukommt, dass eine Arbeitsstelle vor Ort sicher ist.
Das war die nächste Hürde. Eine eigene Wohnung haben wir recht schnell gefunden, aber an eine Arbeitsstelle war es sehr viel schwerer heranzukommen. Vor allem weil die Zeit drängte, unsere Eltern wollten unser Vornehmen schließlich nicht ewig unterstützen. Wir hatten Glück im Unglück. Unglück war, dass wir uns zum einen schlecht über die Arbeitsmarktsituation in dem Land und insbesondere der Region erkundigt hatten. Wir waren alle drei frisch fertig studierte Bachelor of Arts, hatten also Geisteswissenschaften studiert, ohne Erziehungswissenschaften war damit am Arbeitsmarkt in einer Industriestadt wenig anzufangen. Zumal ich selbst Kommunikationswissenschaft studiert und mehrere Praktika im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit absolviert hatte. In einem fremden Land, dessen Sprache man zwar gut oder sogar sehr gut, aber nun einmal nicht auf demselben Level wie Muttersprachler spricht und schreibt, war das allerdings nur wenig wert. Mal um Mal kam die Antwort zurück: "Wir benötigen Fachkräfte, deren Muttersprache Finnisch ist". Wenn denn eine Antwort kam.
Tip 2: Informiert euch im Vorraus über die Arbeitslage in dem Land und die vertretenen Industriezweige und Arbeitsbereiche in der Stadt die euch interessiert und überprüft, ob diese mit euren Qualifikationen übereinstimmen.
Aber ich habe von Glück im Unglück gesprochen und davon, dass ich mittlerweile seit sieben Jahren hier wohne, nicht wahr? Unser Abenteuer Auswandern wäre sicherlich ein kurzes gewesen, wenn wir damals keine Arbeit gefunden hätten, aber es kam anders. Ich will mich gar nicht an den Herbst damals erinnern, die Stunden, die wir auf dem Arbeitsamt oder in der Bibliothek verbrachten, um Bewerbungen zu schreiben, weil wir kein Internet zuhause hatten. An einem dieser Nachmittage jedoch bewarb ich mich auf eine Stelle im Stadtzentrum, bei einem Reinigungsunternehmen. Einige Stunden später bekam ich einen Anruf und wurde zu einem Bewerbungsgespräch am nächsten Morgen eingeladen. An diesem Punkt wollte ich nur noch Geld verdienen und dachte mir, dass Putzen eigentlich auch ganz nett ist, auch wenn ich eigentlich nicht dafür studiert hatte, um Putzfrau zu werden.
Am nächsten Morgen wurde mir eine andere Stelle angeboten als die, auf die ich mich ursprünglich beworben hatte. Irgendwo war eine Verwechslung geschehen, aber das Unternehmen suchte gerade händeringend Leute für eine neue Zweigstelle, welche die Züge der Finnischen Bahn putzen sollte. Der Job war 5min von unserer Wohnung entfernt und wäre interessanter als das Putzen von Bürogebäuden. Außerdem brauchte ich Geld. Dringend. Ich sagte also zu und bekam dann einige Stunden später die Zusage von meiner zukünftigen Chefin. Die mich dann auch gleich fragte, ob ich noch andere motivierte und arbeitssuchende Leute kenne. Ich gab ihre Emailadresse meinen beiden Freundinnen und schon wenige Tage später hatten auch sie einen Job. Glück im Unglück, nicht wahr?
Aber es kam noch besser; erst einmal waren unsere Arbeitskollegen aufgrund des schnellen Arbeitstempos und der Arbeitsumgebung alle jung und beweglich. Wir waren fast alle im selben Alter, die meisten in der gleichen oder ähnlichen Lebensphase. Viele meiner ehemaligen Arbeitskollegen zähle ich noch heute zu meinen besten Freunden. Zweitens mochten meine beiden Vorgesetzten mich. So sehr, dass sie mir anboten, mich für den Sommer für die Urlaubsvertretung meiner direkten Vorgesetzten zu trainieren. Ich sagte zu. Und lernte Personalleitung, das Erstellen von Dienstplänen; im Laufe der Jahre habe ich sogar das eine oder andere Bewerbungsgespräch führen dürfen, habe Arbeitnehmern kündigen müssen, mir ihre Probleme angehört, die Arbeitsausführung geplant. Ich durfte auch hinter die Kulissen der Finnischen Bahn schauen und sehen, wie ein landesweites Logistikunternehmen geführt wird, wie es funktioniert. Doch im darauffolgenden Sommer kam es anders: meine Chefin, die Leiterin unserer gesamten Abteilung, kündigte unerwartet aus gesundheitlichen Gründen. Meine direkte Vorgesetzte teilte mir mit, dass ich die einzige wäre, die diesen Job auch nur einigermaßen erledigen könnte, weil die Zeit zu kurz war, jemand neues zu schulen. So war ich in diesem Sommer gleich in die Chefetage mit Rechnungen, Lohnabrechnungen, Kundenkontakten und allem Drum und Dran gerutscht. Nach dem Sommer wurde aus meiner direkten Vorgesetzten meine Chefin und die nun freie Stelle der direkten Vorgesetzten ging an... jemand anderen. Weil Finnisch nicht meine Muttersprache sei und ich deshalb Probleme mit den Kundengesprächen haben könne. Allerdings machte ich weiterhin Vertretungen und im darauffolgenden Sommer wurde meine neue direkte Vorgesetzte schwanger und ich bekam ihre Stelle für die Zeit ihrer Schwangerschaft. Gegen Ende dieser Zeit begann ich ein neues Studium, hatte also sowieso keine Zeit mehr für eine Volltagsstelle und ging zurück zum einfachen Putzen. Nach den Jahren an Erfahrung, die ich in dieser Zeit hatte sammeln dürfen, war mir das allerdings auch ganz recht. Auch wenn es nach außen vielleicht nicht so aussieht, aber das Putzbusiness ist ein Haifischbecken und die Konkurrenz ist groß. Preise werden unterboten, bis man kaum mehr das Gehalt der Angestellten zahlen kann, weswegen die eh schon knappen Arbeitszeiten noch weiter verkürzt werden.
Heutzutage arbeite ich an meiner Masterarbeit und putze in einer Firma in der meine Stunden sich danach richten wie lange ich brauche und in der Stadtbibliothek. Und gibt es etwas schöneres, als bei der Arbeit von Büchern umgeben zu sein? Ja, von Büchern und netten Büchereiangestellten umgeben zu sein und genügend Zeit zu haben seine Arbeit richtig zu machen. Trotzdem möchte ich die Erfahrungen nicht missen, die ich in der Personalleitung gemacht habe. Ich habe mich in Organisation und Führungsrollen üben dürfen und gemerkt, dass mir beides liegt. Außerdem war kein Tag wie der andere und ich habe auch hinter die Kulissen von vielen anderen Firmen und Veranstaltungsorten gucken dürfen. Bin an Orte gekommen, an die sonst niemand so ohne weiteres darf. Denn auch wenn die Arbeit als Putzfrau manchmal - bitte verzeiht die Wortwahl - buchstäblich scheiße ist, so sieht man Dinge, die nicht jeder sieht. Außerdem lernt man zu arbeiten und sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen.
Tip 3: Manchmal braucht man auch ein wenig Abenteuerlust und muss einen Schritt in eine Richtung tun, die einem unangenehm oder waghalsig erscheint. Manchmal muss man Dinge tun, die man nicht tun möchte. Oft hängt das Ergebnis des Ganzen aber nur von der eigenen Einstellung ab. Mit einer positiven Grundeinstellung und einer guten Arbeitsmoral kommt man weit, selbst wenn es für Außenstehende vielleicht nicht danach aussieht.
Auch im Sommer kann sich die Stadt sehen lassen.
Eine Sache, die ich so nicht erwartet hätte, war allerdings der Kulturschock, der irgendwann einsetzt. Nicht in den ersten Tagen, manchmal nichtmal im ersten Jahr. Aber je länger ich hier bin, desto mehr bemerke ich Unterschiede zwischen der finnischen und der deutschen Kultur. Und diese Unterschiede sind keine meilenweiten, auffälligen Unterschiede, sondern klein, kaum merkbar.
Ein Beispiel ist z.B. die Sprechkultur. Finnen gelten generell in der Welt als wortkarg, das sind sie aber durchaus nicht oder zumindest nicht alle. Finnen reden nur anders. Auch finnische Small Talk Themen unterscheiden sich von deutschen. Während man in Deutschland gerne fragt, was jemand eigentlich beruflich macht, kann ein Finne das schnell als zu persönlich empfinden. Finnen fragen lieber, woher jemand kommt oder was man am Wochenende vorhat. Was ich allerdings selbst immer wieder feststelle, ist dass mich Finnen als unhöflich empfinden. Aber warum, ich bin doch eigentlich ein sehr höflicher Mensch? Der Grund dafür liegt im Pausenverhalten bei Gesprächen. Während im Deutschen rhetorische Pausen und Redepausen generell recht kurz gehalten werden, benutzen die Finnen einmal recht viele und dann für mich als Deutsche sehr lange Pausen. Und trotz sieben Jahren in Finnland passiert es mir noch heute, dass ich denke, dass der Redebeitrag meines Gegenüber schon vorbei ist, wenn mein Gegenüber eigentlich nur eine kleine rhetorische Pause einlegt. Und dementsprechend fühlt sich mein Gegenüber, als wäre ich ihm über den Mund gefahren. Außerdem verstehe ich bis heute noch nicht ganz wie der Sprecherwechsel im Finnischen funktioniert, denn oft bemerke ich in Gesprächen, dass ich kleine Hinweise, dass jetzt die nächste Wortmeldung dran wäre, nicht wahrnehme.
Auch das Alkoholverhalten der Finnen ist anders. Die Finnen trinken nicht jeden Tag ein Bierchen oder ein Glas Wein zum Abendessen. Finnen sind den größten Teil de Woche abstinent. Wenn sie dann aber trinken, dann trinken sie bis zum Anschlag. Finnen gehen dementsprechend auch mit Betrunkenen sehr viel gelassener um, denn morgen könnten das sie selbst sein. Diese Ruhe im Umgang mit Betrunkenen habe ich nie gelernt.
Tip 4: Kulturelle Unterschiede sind wichtig. Sie zu bemerken ist wichtig. In Ländern wie Indien und Japan sind sie so offensichtlich, dass man nicht umhin kann, sie zu bemerken, doch auch zwischen zwei Ländern, deren Kulturen augenscheinlich gleich sind, gibt es kleine Unterschiede. Und gerade diese kleinen Unterschiede sind es, die viel ausmachen. Gerade diese kleinen Details im Verhalten gilt es zu bemerken. Haltet also die Augen offen.
Meine Zeit hier in Tampere neigt sich ihrem Ende zu. Nicht weil ich unbedingt hier weg möchte, sondern aus dem einfachen Grund, dass ich meinen Masterabschluss im Juni in der Hand halten werde und dann in dieser Stadt, insbesondere bei der aktuellen wirtschaftlichen und arbeitsmarkttechnischen Lage in Finnland und in Tampere keine Arbeitsstelle in meinem Gebiet finden werde und ich nicht mehr die Kraft habe, mir in Helsinki ein neues Leben aufzubauen. Außerdem wird es mit jedem Jahr ein klein wenig schwerer, den Alltag in einer Fremdsprache zu bestreiten. Man merkt das in den ersten Monaten und Jahren noch nicht, weil die Begeisterung überwiegt, aber irgendwann fühlt man sich, als würde man selbst durch Wasser waten, während die Menschen um einen herum auf einem netten gepflasterten Gehweg an einem vorbei ziehen. Und auch wenn ich Finnisch mittlerweile laut Aussage einiger Finnen so gut beherrsche, dass man mich nicht sofort als Nicht-Finnin erkennt, es ist anstrengend. Auch die Entfernung zu Familie und alten Freunden macht einem mit der Zeit zu schaffen, besonders wenn man Feiertage nicht mit ihnen verbringen kann. So sehr ich Tampere und meine Freunde, mein Leben hier vermissen werde, ich habe in dieser Stadt alles gelernt, was ich zu lernen hatte. Es wird Zeit für mich, neue Erfahrungen zu machen, neuen Herausforderungen entgegenzutreten. Ich bin ein bisschen aus Tampere herausgewachsen. Und das bringt mich zu meinen letzten Tips.
Tip 5: Nichts währt ewig. Auch wenn ihr jetzt überzeugt seid, dass ihr den Rest eures Lebens in einem anderen Land verbringen werdet: Zeiten ändern sich. Ihr ändert euch. Und nichts ist für immer. Habt keine Angst vor Veränderung, neuen Herausforderungen, auch nicht nach dem Auswandern, ich ziehe erst einmal zurück nach Berlin, aber ich könnte mir vorstellen, eine Zeit in London zu wohnen. Vielleicht in den USA. Bleibt flexibel.
Tip 6: Und vor allem genießt jeden einzelnen Tag. Nicht jeder macht diese Erfahrung und es gibt sovieles zu entdecken. Die Erfahrungen, die ihr machen werdet, werden euch verändern, ihr werdet vieles lernen, werdet selbstständiger, unabhängiger und selbstbewusster. Nehmt alles mit, was diese Erfahrung euch gibt, Erfolge, Enttäuschungen, Glückserlebnisse und traurige Momente.
Ich würde nichts an meiner Geschichte ändern, auch nicht das (vorläufige) Ende.
No comments:
Post a Comment