Es ist einen Moment her, dass ich hier etwas geschrieben habe und man kündigt ja immer so schön an, dass man ab jetzt wieder regelmäßig schreibt und jetzt wieder Zeit hat und das Leben zwischendrin war so stressig und zu nichts gekommen und...
Die Wahrheit ist, dass ein Blog nun mal keine Priorität hat, schon gar nicht, wenn man ihn in der Hauptsache für sich selbst schreibt. Und so ist es auch diesmal. Ich hatte heute ein langes Gespräch mit einer Freundin, die einen Podcast moderiert und die auf einmal meinte "Du, manchmal frage ich mich schon, weswegen ich das überhaupt mache. Da liegt mir ein wichtiges Thema am Herzen und ich mache dazu einen Podcast und er bekommt nur einen Bruchteil der Clicks, weil es eben kein lustiges oder leichtes Thema ist." Das hat etwas in mir bewegt.
Denn es fasst relativ gut zusammen, was ich in den letzten Jahren mehr und mehr gesehen habe. Die Schere zwischen arm und reich... nein, zwischen interessierten und engagierten Menschen und denen, die bloß nirgendwo genauer hinsehen möchten, weil sie sich ansonsten genötigt fühlen könnten, etwas tun zu müssen, wird immer größer. Oder habe nur ich dieses Gefühl? Es gab da so einen treffenden Tweet zum Thema Fleischindustrie:
"Schön auch, wie sich jahrelang niemand für osteuropäische Sklaven in deutschen Fleischfabriken interessiert hat - trotz aller Skandale, Zeitungsartikel & Fernsehsendungen. Aber jetzt, wo Ingrid aus Gütersloh deswegen keinen Urlaub in Usedom machen kann, geht die fucking Post ab." (@stephanpalagan auf twitter)
Not in my backyard, heißt das im Englischen, nicht in meinem Garten. Denn im Großen und Ganzen ist es mir egal, solange mir das Elend nicht ins Gesicht starrt.
Und so ist es doch mittlerweile in allen Belangen, die solidarisches oder einfach nur empathisches Handeln verlangen würden. Der Einzelhandel verdient zu wenig - hätten die halt mal was Vernünftiges gelernt, so fing das an. Die Lüge, dass aus jedem Menschen etwas Großes werden kann, wenn er nur möchte und alle anderen halt einfach nicht genügend Disziplin oder Grips haben. Wenn es jemandem schlecht geht, ist es immer die eigene Schuld. Aber sein wir doch mal ehrlich, wären wir alle Rapstars oder Start-up Unternehmer, dann könnten wir nirgendwo mehr einkaufen. Niemand würde in den Fabriken arbeiten, die unser Essen produzieren (außer wir schließen andere Länder kategorisch aus unserem German Dream aus und lassen die zu Billiglöhnen... ach...halt...), wenige würden noch Pflegekraft werden wollen, und wer dann noch an den Hotelrezeptionen oder in den Restaurants Gäste betreuen würde, die sie beschimpfen? Ein paar ganz Wahnsinnige mit Helfersyndrom und ungesundem Schlafrhythmus. Moment, auch hier sind wir in der heutigen Zeit schon sehr nah dran. Aber ich drifte ab.
Wir machen uns aktuell im Internet über entitled Karens - selbstgefällige bzw. selbstgerechte Frauen mittleren Alters - lustig, die Verkäufern und anderem Servicepersonal, manchmal auch Kollegen und Verwandten den Berufsalltag mit ihren unerfüllbaren Ansprüchen zur Hölle machen, ohne zu merken, dass wir mittlerweile in einer Gesellschaft voller Karens leben (glaub mir, ich sehe jeden Tag mindestens eine, eher mehr auf der Arbeit), dass wir mittlerweile eine Nation der Karens sind (hier möchte ich mich nicht ausnehmen).
Aber warum sind wir so blind, warum werden wir immer empathieloser und sehen nicht den Menschen vor uns, sondern den Verkäufer, der keine menschlichen Regungen zu haben, sondern nur zu funktionieren hat? Warum schauen wir weg, wenn Probleme auftauchen, anstatt uns ihrer anzunehmen. Wenn jeder von uns anpacken und ein kleines Stückchen der Verantwortung tragen würde, dann wäre die Summe doch gar nicht mehr so schwer. Warum wollen wir das Elend von Tieren oder anderen Menschen nicht sehen, geschweige denn anerkennen?
Die Antwort ist wahrscheinlich ebenso einfach wie verstörend: weil es unbequem wäre und wir uns in einer Zeit, in der wir unser Leben versuchen so bequem wie möglich zu gestalten, keine Unbequemlichkeiten aufhalsen wollen. Außerdem müsste man sich dafür eingestehen, dass unsere Gesellschaft kaputt ist und wieder in ihren Naturzustand zurück verfällt. Thomas Hobbes schrieb seiner Zeit in seiner Staatstheorie, dass der Mensch den Staat braucht, da der Mensch dem Menschen ein Wolf ist. Um zu verhindern, dass jeder nur seinen eigenen hedonistischen Bedürfnissen hinterher läuft, braucht es einen Staat mit festen Regeln, der das "Wolfsein" des Menschen im Zaum hält. Problematisch wird es nur, wenn dieser menschliche Urinstinkt, sich selbst bzw. seinem Rudel der oder die nächste zu sein, über Jahrzehnte hinweg von Medien, Politik und Wirtschaft gezüchtet und gehegt wird, um daraus Profit zu schlagen. Lässt man sie lange genug gewähren, werden sie mehr und mehr und irgendwann schützt uns auch der Staat nicht mehr vor unserer eigenen, egoistischen Natur, weil er von den Profitgeiern untergraben wird.
Und um eines klar zu stellen: mit den sich profilieren wollenden Profitgeiern meine ich nicht die konservativen Parteien und unsere relativ altbackene Regierung, die noch versuchen, uns vor uns selbst zu schützen (ja, auch nicht alle, ja, viele haben da auch ihre eigenen Steckenpferde), sondern Parteien die sich als Alternativen bezeichnen und in Wirklichkeit keine Lösungen an den Tisch bringen oder Politik mit Hand und Fuß machen wollen, sondern die auf einer Stimmungswelle nach der nächsten reiten und bestimmte extreme Tendenzen schüren, um schneller voran zu kommen. Damit meine ich Kochbuchautoren, die plötzlich Virenexperten sind, weil...warum eigentlich? Um im Gespräch zu sein? Weil jegliche Erwähnung in den Medien besser ist als ein Leben als Supermarktangestellter, der Oma Heidemarie hilft, ihre Einkäufe in ihren Rollator zu räumen?
Es wird höchste Zeit, ernsthaft und hart darüber nachzudenken, was wirklich zählen sollte. Und auch hier nehme ich mich selbst nicht aus.
Anmerkung der Autorin: Bei dem Verfassen dieses Textes wurden keine Karens wissentlich oder mutwillig verletzt. Ach ja, und wer anderer Meinung ist, darf gern weglesen.